Samstag, 10. Dezember 2011
Mein Mann und ich sitzen im Wohnzimmer. Auf
dem Tisch steht ein Adventkranz mit einer brennenden Kerze. Die Nachbarin hat
uns den Kranz geschenkt, er ist verziert mit zwei Paar Babystiefelchen. Unsere
Babys liegen aber noch immer auf der Neonatologie. Mehr als drei Wochen ist die
Geburt nun her. Mehr als drei Wochen Intensivstation liegen hinter uns.
Es geht aufwärts mit unseren Jungs. Die
unzähligen Untersuchungen verlaufen überwiegend positiv. Die beiden nehmen an
Gewicht zu und können ihre Körpertemperatur halten, deshalb benötigen sie kein
Wärmebettchen mehr. Sohn 02 trinkt die für ihn vorgesehene Milchmenge bereits
aus dem Fläschchen. Die Magensonde wurde ihm entfernt. Sohn 01 trägt wegen
seiner Trinkschwäche noch immer den dünnen grünen Schlauch, der durch sein
Nasenloch in den Magen führt und mit einem Pflaster in Form eines Herzchens an
seiner Wange befestigt ist.
Dennoch kommen wir der Entlassung aus dem Krankenhaus mit großen Schritten näher, denn es ist geplant, dass ich am nächsten Morgen mit den Kindern in das Mutter-Kind-Zimmer auf der Neonatologie ziehe. Ich soll dort den Umgang mit meinen Kindern lernen und mich auf die Zeit zuhause vorbereiten. Ich werde von nun an rund um die Uhr mit zwei kleinen Babys zusammen sein.
Mein Mann und ich schreiben Listen über die
Dinge, die wir ins Krankenhaus mitnehmen werden. Die Kinder sollen ihre
persönlichen Sachen verwenden. Kleidung, Fläschchen, Schnuller. Ich packe einen
Koffer für die beiden und eine kleine Tasche mit meinen Habseligkeiten.
Diesen Abend hätten wir auf Anraten der
Krankenschwester eigentlich im Kino verbringen sollen. Es würde in nächster
Zeit nicht mehr viele Abende zu zweit geben, meinte sie. Mein Mann und ich
haben andere Prioritäten. Wir sehnen die Entlassung unserer Kinder
herbei. Das Hin und Her zwischen dem Krankenhaus und unserem Zuhause ist
zermürbend.
Frohen Mutes ziehe ich am Sonntag mit Sack und
Pack in das Mutter-Kind-Zimmer. Es ist ein geräumiges Zimmer mit einem Bett für
mich und einem Gitterbettchen für beide Kinder. Die Einrichtung besteht aus
Wickeltisch, Schrank, Waschbecken, Schreibtisch, Drehstuhl und einem kleinen
Tischchen. An der Wand hängt ein Überwachungsmonitor. Aus dem Fenster blicke
ich direkt in den angrenzenden Wald.
Die Krankenschwester bespricht mit mir den
Tagesablauf und erklärt, wofür ich verantwortlich bin. Die Kinder werden nun
nicht mehr im 4-Stunden-Takt gefüttert, sondern bekommen Nahrung ad libitum.
Das bedeutet, dass sie Milch trinken, wenn sie danach verlangen. Dreimal
täglich muss ich jedem Kind mindestens zehn Minuten vor Nahrungsaufnahme
Eisentropfen verabreichen. Morgens bekommen beide Vitamin-D Tropfen.
Einmal täglich muss ich die Körpertemperatur
mit einem Fieberthermometer messen, die Kinder wiegen und eine Stuhlprobe aus
der Windel entnehmen. Das Wickeln, Waschen und Umziehen der Kinder obliegt mir,
das versteht sich von selbst. Die Elektroden bleiben auf ihren Körpern kleben,
denn die Kinder sollten, außer beim Wickeln, ständig am Überwachungsmonitor
angeschlossen sein.
Ich muss eine Liste führen über die Fütterzeiten
und die Menge der getrunkenen Milch, das Vorhandensein von Harn, die Menge des
Stuhls, die Körpertemperatur und über das Körpergewicht. Nebenbei sollte ich möglichst
viel Milch abpumpen. Das Stillen klappt leider noch immer nicht und meine
Muttermilch reicht an manchen Tagen nicht mehr für alle Mahlzeiten. Meist muss
ein Fläschchen mit Frühchennahrung zugefüttert werden.
Wenn ich den Raum zum Essen, Duschen oder Klo
gehen verlasse, muss ich das bei den Krankenschwestern melden. Wenn ich einen
Spaziergang machen möchte, ebenso. In dieser Zeit übernehmen die Schwestern die
Überwachung der Kinder mittels Monitor im Schwesternbereich. Zweimal täglich
findet eine Visite durch Ärzte und Schwestern statt.
Das Frühstück ist auf dem Flur vor der
Intensivstation abzuholen. Das Mittagessen gibt es in der Kantine. Dort bekomme
ich auch ein Lunchpaket für den Abend. Neben dem Gemeinschaftsduschraum befindet
sich ein kleiner Aufenthaltsraum. Dort kann ich essen, Kaffee oder Tee kochen.
Auf dem Tischchen steht ein Adventkalender. Eine Mama, deren Kind seit Oktober
auf der Neonatologie liegt und dessen Entlassung noch lange nicht absehbar ist,
hat sich dort ihre kleine Welt eingerichtet.
Meine kleine Welt, die mir zurechtgezimmert
wurde, kostet mich alle Kraft. Ich sitze mit Sohn 01 in meinen Armen auf einem
Stuhl und füttere ihn mit dem Fläschchen. Er ist so schwach und seine
Mundmotorik so unausgereift, dass er bis zu eineinhalb Stunden benötigt, um
etwa 30 ml Milch zu trinken. Und das ist laut Schwestern zu wenig für sein
Körpergewicht, das mittlerweile fast 2 kg beträgt.
Trotzdem wird ihm am zweiten Tag nach dem
Einzug ins Mutter Kind-Zimmer die Magensonde entfernt. „Er muss es einfach
lernen“ heißt es. Sohn 02 trinkt besser, benötigt aber auch viel Zeit. Und dann
ist Sohn 01 wieder hungrig. Ich bin rund um die Uhr mit der Pflege und Fütterung
der Kinder und dem Abpumpen von Milch, das mindestens zwanzig Minuten dauert,
beschäftigt und ich schlafe maximal eine Stunde am Stück.
Nach ein paar Tagen und Nächten packen mich
Heulattacken. Der Schlafmangel hat ein Nervenbündel aus mir gemacht. Zum
Spazieren gehen oder reden habe ich keine Kraft mehr, ich funktioniere nur.
Obwohl ich eigentlich nichts wie raus will, aus diesem mittlerweile engem Raum,
schaffe ich nur noch den Weg in die Kantine und in den Duschraum.
Morgens um 6:00 Uhr kommt mein Mann und bringt
die Tageszeitung und Frühstück mit. Kaffee, ein frisches Brötchen, Frischkäse,
Schinken, Gemüse. Er weiß, was mir schmeckt und merkt, dass ich seinen Zuspruch
brauche. Nach seiner Arbeit im Büro kommt er abends noch einmal vorbei. Um die
Kinder zu sehen, aber vor allem, um mich für ein paar Stunden zu unterstützen.
Aber dann bin ich wieder allein. Allein mit
zwei Babys, deren Sprache ich oft nicht verstehe. Sohn 01 schreit immer wieder
heftig und lange. Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann. Nach einigen Tagen
übergebe ich ihn für ein paar Stunden der Schwester. Ich will nur noch
schlafen, schlafen, schlafen.
Nach sechs Tagen sind meine Energiereserven
beinahe erschöpft. Ich brauche dringend eine Auszeit. Wegen der Trinkschwäche
von Sohn 01 wird eine Entlassung noch nicht genehmigt. Am Samstag übernimmt mein
Mann den „Dienst“ im Krankenhaus. Das ist auch für die Schwestern eine neue
Situation. Im Mutter-Kind-Zimmer sind meist Mütter anzutreffen. Da ich nicht
stille, darf in unserem Fall aber der Vater einziehen und funktioniert das
Mutter-Kind-Zimmer zu einem Eltern-Kind-Zimmer um. Ich fahre nach Hause und
schlafe. Zwischendurch pumpe ich Milch ab, die ich am Sonntag ins Krankenhaus bringe.
Mit neuer Energie übernehme ich die Betreuung
der Kinder an diesem Abend wieder. Mein Mann
muss schließlich am Montag wieder arbeiten. Ich bin ausgeruht und komme sehr gut über die Nacht.
Am nächsten Morgen erhalten wir die Nachricht, auf die wir schon so lange warten.
Am Dienstag sollen unsere Kinder nach fünf Wochen Aufenthalt auf der Neonatologie
Intensivstation entlassen werden. Fünf Wochen, die geprägt waren von Hoffen,
Bangen, Verzweiflung, Freude, Dankbarkeit und Demut.
Dienstag, 20. Dezember 2011
Heute werden wir MIT unseren Kindern nach
Hause fahren. Ich bin aufgeregt wie ein kleines Kind vor der Bescherung. Mein
Herz macht Freudensprünge. Mein Mann hat
den Tag freigenommen und ist bereits um acht Uhr da. Wir erledigen noch einige
Formalitäten und führen ein Entlassungsgespräch mit einem Arzt. Unsere Kinder
werden als gesunde Kinder aus dem Krankenhaus entlassen. Die Physiotherapie
wird fortgesetzt werden, ansonsten sind sie wie reifgeborene gesunde Babys zu
behandeln. Wir bekommen seitenlange Arztbriefe mit. Am Ende des Protokolls über
Sohn 01 lesen wir:
Bei insgesamt guter Besserung und sehr
zufriedenstellender Gewichtszunahme kann er schließlich am 20.12.2011 nach
Hause entlassen werden.
Entlassungsgewicht: 2165 g
Entlassungsgröße: 46 cm
Entlassungskopfumfang: 30,5 cm
Internistisch und neurologisch unauffällig.
Im Brief von Sohn 02 steht:
Am 20.12.2011 kann er in gutem
Allgemeinzustand nach Hause entlassen werden.
Entlassungsgewicht: 2500 g
Entlassungsgröße: 49 cm
Entlassungskopfumfang: 31,5 cm
Internistisch und neurologisch unauffällig.
Unauffällig verlassen wir auch das Krankenhaus. Abgesehen von der viel zu großen Kleidung in Größe 50. Keine Fahnen und Trompeten begleiten uns, aber
als wir mit den beiden Maxi Cosi durch die Schiebetüre des Gebäudes gehen,
schickt uns eine unbekannte ältere Dame ein „Alles Gute!“ auf den Weg mit. Es
bedeutet uns sehr viel.
Vier Tage vor dem Heiligen Abend fahren wir mit
unseren Kindern nach Hause. Es ist ein strahlend sonniger Wintertag ähnlich jenem
Tag im November, als unsere Söhne siebeneinhalb Wochen zu früh geboren wurden.
Samstag, 24.12.2011 - Heiliger Abend
Unser erstes Familienfoto entstand auf der
Neonatologie beim Känguruhen. Unser zweites Familienfoto entsteht zuhause neben
dem Weihnachtsbaum. Sohn 01 in meinen Armen, Sohn 02 in den Armen meines
Mannes. Daneben steht der Christbaum, geschmückt mit roten Kugeln und silbernen
Sternen. Darunter liegen viele Geschenke, große und kleine. Aber die wertvollsten
Geschenke halten wir in unseren Armen. Unser Weihnachtswunder wurde wahr.
Im
fünften Teil (Mit der Nachsorge die Steine am Weg überwinden) werde ich von
Entwicklungskontrollen, Arztbesuchen und Therapien berichten. Und leider auch
von einer unerwarteten Operation.
Deine Berichte rühren mich immer zu Tränen. Einmal, weil es so emotional ist aber zum Glück ein Happy End hat und einmal, (ich hoffe das klingt jetzt nicht blöd) weil ich dankbar dafür bin, dass ich dies nicht durchlaufen musste.
AntwortenLöschenLieben Gruß, Wiebke
Ich sitze hier mit Tränen in den Augen..... danke dass du uns teilhaben lässt....
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