Heute hätten unsere Kinder laut errechnetem
Entbindungstermin auf die Welt kommen sollen. Sie sind nun aber bereits
siebeneinhalb Wochen alt und haben einen 5-wöchigen Aufenthalt auf der
Neonatologie hinter sich. Sie haben sich gut entwickelt und sind nun laut
Ärzten wie reif geborene Babys zu behandeln.
Geplant ist lediglich, dass die im Inkubator
begonnene Physiotherapie zur Unterstützung und Förderung der motorischen
Entwicklung fortgesetzt wird. Außerdem müssen wir ihnen dreimal täglich
vor den Mahlzeiten Eisentropfen geben. Wie andere Babys auch bekommen sie einmal
täglich Vitamin-D Tropfen.
Trotzdem packen mein Mann und ich unsere Söhne in Watte. Das Leben auf der Intensivstation, wo sich alles darum dreht, die Kinder zu überwachen und schädliche Umwelteinflüsse fern zu halten, hat uns geprägt. Es ist Winter und die Zeit der Erkältungskrankheiten. Weil wir uns davor fürchten, dass unsere noch immer sehr kleinen Kinder krank werden könnten, nehmen wir sie nicht mit zum Einkaufen, wir nehmen an keinen Eltern-Kind-Treffen teil und halten Besuche möglichst fern. Lediglich ein- bis zweimal am Tag machen wir einen Spaziergang mit dem Kinderwagen.
Auch ich muss die lange Zeit im Krankenhaus
erst verdauen und bin froh, in der geschützten Geborgenheit unseres Zuhauses zu
sein. Ich bin ohnehin rund um die Uhr beschäftigt mit dem Füttern der Kinder
und dem Abpumpen von Milch. Sohn 01 benötigt noch immer bis zu einer
Dreiviertelstunde, um sein Fläschchen zu trinken. Meine Muttermilch reicht
nicht mehr für alle Mahlzeiten. Ich muss längst Pre-Nahrung zufüttern. Das
bereitet mir Sorgen. Wird doch überall die Muttermilch als das einzig Gute fürs
Kind angepriesen. Das Abpumpen kostet mir viel Zeit und damit auch viel Kraft.
Die Stillversuche habe ich gänzlich aufgegeben.
Ein Besuch mit beiden Kindern bei der
Kinderärztin in unserem Ort erfolgte bereits Ende Dezember. Außer den gängigen
Untersuchungen und Impfungen werden Blutbilder gemacht. Unter
anderem muss der Eisengehalt im Blut kontrolliert werden, um die richtige Menge
an Eisentropfen zu verabreichen.
Mitte Jänner hat Sohn 01 seinen nächsten
Termin bei der Kinderärztin. Seine Schilddrüsenwerte müssen kontrolliert
werden.
18.
Jänner 2012 - Kinderklinik
Nachmittag. Ich liege tränenüberströmt auf
einem schmalen Bett in einem Krankenzimmer der Kinderklinik, während meine
Söhne gemeinsam im Gitterbettchen daneben schlafen.
Sohn 01 musste am Vormittag überraschend in
der Kinderklinik untersucht werden. Dieser Termin war nicht geplant, sondern war
die Folge des gestrigen routinemäßigen Kinderarztbesuches. Sohn 01 zeigte
körperliche Auffälligkeiten, die vor einigen Tagen aufgetreten waren. Da die
Kinderärztin sich der Ursache dieser Auffälligkeiten nicht sicher war, überwies
sie uns zur genaueren Untersuchung in die Kinderklinik.
Damit ich nicht alleine hierher fahren musste,
begleitete mich mein Mann. Es war geplant, dass er direkt nach der Untersuchung
ins Büro fahren würde und ich mit den Kindern nach Hause. Leider kam es
anderes. Mein Sohn hat offensichtlich einen schwerwiegenden Leistenbruch, was
bei Frühchen leider oft der Fall ist und darf das Krankenhaus nicht mehr
verlassen. Gleich für den nächsten Tag wurde ein Operationstermin angesetzt.
An sich ist solch eine OP eine
Routineangelegenheit und wird in manchen Fällen sogar ambulant durchgeführt. In
unserem Fall aber ist zu erwarten, dass unser Sohn nach der Operation einige
Nächte lang auf der Intensivstation überwacht werden muss, da er als Frühchen auf
die Welt kam. Was mir zusätzlich noch schwer im Magen liegt, ist, dass er sechs
Stunden vor der OP außer Tee nichts trinken darf. Das heißt für mich, dass ich
ihm die letzte Milch um ein Uhr nachts geben muss. Durch seine Trinkschwäche
hat er aber einen Rhythmus von längstens drei Stunden. In Gedanken sehe ich ihn
stundenlang vor Hunger schreien. Muttermilch bekommt er keine mehr, es gibt nur
noch Pre-Nahrung für meine Kinder. Ich habe mit dem Abpumpen vor einer Woche
aufgehört.
Von der Kraft, die ich während unseres
Aufenthaltes auf der Neonatologie hatte, ist nichts mehr übrig. Gerade haben
wir begonnen uns zuhause ein Nestchen zu bauen und die erste Zeit zu
verarbeiten und nun steht diese völlig unerwartete Operation vor uns. Ich bin
mit meinen Nerven am Ende und habe große Angst um mein Kind.
Die
Nacht
Pünktlich um 01:00 Uhr wecke ich ihn, um ihm
die Flasche zu geben. Dabei passiert Unerwartetes. Mein Sohn trinkt 160 ml
Milch, das ist die doppelte Menge seiner gewohnten Ration. Er hatte bisher noch
nie mehr als 80 ml während einer Fütterung getrunken. Das lässt mich endlich beruhigt
einschlafen. Und auch er schläft bis wenige Minuten vor dem Operationstermin
durch.
Am
Morgen
Erst als ich ihn wasche und sein
Operationshemdchen anziehe, wacht er auf. Ich trage ihn begleitet von meinem
Mann und einer Krankenschwester in den Warteraum vor dem Operationssaal, wo
bereits einige Kinder warten. Dort bricht er in ohrenbetäubendes Geschrei aus.
Ich kann ihn nicht mehr beruhigen und bin erleichtert, als der Narkosearzt ihn
mir abnimmt und durch die Schiebetür in den Operationssaal bringt.
19.
Jänner 2012 – Intensivstation Kinderchirurgie
Die Operation ist gut verlaufen. Ich darf
meinen Sohn auf der Intensivstation besuchen. Den Anblick kenne ich bereits. Er
ist umgeben von technischen Geräten und trägt einen Schlauch zur Unterstützung
der Atmung. Er schläft. Ich kann weiter nichts für ihn tun und fahre mit Sohn
02 erschöpft nach Hause.
Sommer
2012
In Watte haben wir unsere Kinder längst nicht
mehr gepackt. Im Gegenteil. Es ist Sommer und sie verbringen sehr viel Zeit im
Garten zwischen Schnecken und Regenwürmern. Einmal pro Woche besuchen wir einen
fitdankbaby-Kurs, in erster Linie, damit ich wieder unter Menschen komme.
Meine Söhne erweisen sich als sehr robust, sie
waren bisher noch nie krank. Sie essen ausreichend - mittlerweile haben wir
begonnen Brei zu füttern – und sie wachsen gut.
Die zahlreichen Impfungen bei der Kinderärztin
vertragen sie ausgezeichnet. Es gibt nie Impfreaktionen. Die Eisentropfen
müssen wir nicht mehr verabreichen, jedoch bekommen wir die Auflage mindestens
dreimal pro Woche Fleisch zu füttern.
Unser Leben spielt sich am Boden ab. Auf
diesem schafft es Sohn 01 sich gegen Ende des Sommers einige Meter
fortzubewegen. Sohn 02 jedoch kommt nicht vom Fleck.
Diese Übung hat mein Sohn bei fitdankbaby Turnen von den Mamas abgeschaut. |
28. November
2012 – Entwicklungskontrolle in der Kinderklinik
In diesem Jahr pendelte ich mit meinen Söhnen
zwischen Terminen bei der Physiotherapeutin, der Kinderärztin, dem Osteopathen
und dem Orthopäden hin und her. Die letzteren beiden besuchten wir aufgrund der
anfänglich asymmetrischen Körperhaltung von Sohn 01.
Sohn 01 macht im November seine ersten Schritte. |
Sohn 02 entwickelt sich zu unserem „Sorgenkind“. Er ist bisher nur gerobbt und beginnt gerade erst mit Krabbelversuchen. Sein Muskeltonus ist leicht herabgesetzt, das bedeutet, dass ihm die nötige Körperspannung für eine zeitgerechte motorische Entwicklung fehlt.
Nun sind wir das zweite Mal zur
Entwicklungskontrolle für Frühchen im Krankenhaus. Die Ärztin empfiehlt, die
Physiotherapie im Krankenhaus zu beenden und anstatt dessen einen Antrag auf Heimfrühförderung
laut Behindertengesetz zu stellen und zusätzlich um Therapiestunden bei der
Ergotherapeutin anzusuchen, um seine motorische Entwicklung zu fördern. Laut
Ärztin ist auch sein Spielverhalten nicht altersgemäß entwickelt.
Damit habe ich nicht gerechnet. Mir war
bewusst, dass mein Sohn langsamer entwickelt ist, dass er aber nun als „behindert“
eingestuft wird, muss ich erst einmal verdauen. Bisher war ich immer der
Meinung, dass er „einfach nur seine Zeit braucht“, um sich zu entwickeln. Nach
diesem Termin gehen meine Gedanken aber in die Zukunft. Wird er jemals mit
Gleichaltrigen mithalten können?
2013
Im neuen Jahr beginnen wir mit der
Ergotherapie und Frühförderung von Sohn 02. Er kann mittlerweile krabbeln und
mit Anhalten stehen. Motorisch geht es aufwärts.
Sohn 01 bekommt zu Beginn des Jahres seine
ersten Schuhe. Er geht nun sicher.
13. Februar
2013 - Augenklinik
Heute habe ich mit Sohn 02 einen Termin in der
Augenklinik. Das sehr seltene Duane Syndrom wurde bei ihm diagnostiziert. Einer
seiner Augennerven funktioniert nicht, daher kann er sein linkes Auge nicht
nach links bewegen. Seine Sehleistung ist laut Untersuchung altersgemäß, jedoch
könnte es sein, dass er gelegentlich Doppelbilder sieht, was zur Zeit nicht
feststellbar ist. Es gibt keine Therapie, lediglich eine Operation könnte diese
Fehlleistung beheben. Diese ist jedoch nur in seltenen Fällen dringend nötig. In
Zukunft werden Untersuchungen in regelmäßigen Abständen nötig sein.
4. Mai
2013
Sohn 02 hat in den letzten Monaten
ausgezeichnete Fortschritte gemacht. Er hat große Freude an Bewegung entdeckt.
Immer, wenn wir im Haus sind, schiebt er ein Kistchen aus dem Regal vor sich her und
läuft auf diese Art und Weise mit seinem Bruder um die Wette.
An diesem 4. Mai sitze ich im Wohnzimmer, meine
Kinder spielen in der Küche. Auf einmal kommt Sohn 02 jauchzend ins Wohnzimmer.
Er macht seine ersten Schritte ohne sich festzuhalten und ist dabei erstaunlich
geschickt. Mein Sohn ist beinahe 18 Monate alt. Zufällig liegt die Kamera neben
mir und mir gelingt es, dieses wunderbare Ereignis festzuhalten.
Ein paar Tage später bin ich mit beiden Kindern
beim Zwergerltreff. Sohn 02 läuft fröhlich und sicher durch den Raum. Ich
strahle mit ihm um die Wette. Keine der anwesenden Mütter bemerkt das. Ein
Kind, das mit eineinhalb Jahren gehen kann, ist für sie keine Besonderheit. Für
zwei Menschen im Raum ist es jedoch ein wunderschönes Erlebnis: Für meinen Sohn
und mich.
12.
August 2013 - Entwicklungskontrolle
Wieder einmal fahren wir zur
Entwicklungskontrolle ins Krankenhaus. Unsere Kinder sind 1 Jahr und 9 Monate
alt. Ich habe ein gutes Gefühl, das sich nach den jeweils einstündigen Untersuchungen letztendlich auch bestätigt. Am Ende der ausführlichen Befundberichte stehen
folgende kurze Zusammenfassungen:
Sohn 01: „Sehr erfreuliche und unter
Berücksichtigung der Frühgeburtlichkeit altersgemäße Entwicklung nach
Zwillings-Frühgeburt, auch weiterhin kein Anhaltspunkt für eine Asymmetrie oder
Dystonie. Die Sprachentwicklung ist überaltersgemäß.“
Sohn 02: „Er hat sich sehr erfreulich weiter
entwickelt und in seiner Wahrnehmung deutlich verbessert. Die Entwicklung kann
unter Berücksichtigung der Frühgeburtlichkeit als altersgemäß angesehen werden.
Es findet sich noch eine leichte Muskelhypotonie sowie die Abduktionshemmung am
linken Auge. Wir empfehlen Beendigung der Frühförderung.“
Yeah! Ich bin überglücklich.
8.
Jänner 2014 – Korrigierter zweiter Geburtstag
Wir sind auf dem Heimweg vom Krankenhaus. Wir
hatten wieder einen Termin zur Entwicklungskontrolle. Überraschenderweise den
letzten. Damit hatten wir nicht gerechnet. Die Ärztin aber meinte, eine weitere
Kontrolle ihrerseits wäre nicht mehr nötig, da unsere Kinder sämtliche Entwicklungsrückstände
aufgeholt hätten.
Natürlich freuen wir uns sehr darüber, es ist
aber auch ein eigenartiges Gefühl zu wissen, dass wir das Gebäude, in dem die
Neonatologie untergebracht ist, nicht mehr betreten werden.
Immer, wenn ich auf dem Weg zur Physiotherapie
draußen vorbei ging oder vor einem Termin zur Entwicklungskontrolle gleich neben
der Intensivstation wartete, überkam mich ein großes Gefühl der Dankbarkeit für
die Menschen und die Technik, die das ersetzten, was ich meinen Kindern in
meinem Bauch nicht mehr geben konnte - Sie in Geborgenheit wachsen und reifen
zu lassen.
Es mag Außenstehenden eigenartig
erscheinen, aber dieses letzte Gehen nach der Entwicklungskontrolle, die so gute Ergebnisse
brachte, bedeutet auch sentimentalen Abschied für mich.
Und
jetzt?
Ich glaube, dass ich das Trauma der Frühgeburt
meiner Kinder gut verarbeitet habe.
Die beiden feiern in wenigen Wochen ihren
dritten Geburtstag. Wer meine Posts und Tweets regelmäßig liest, wird erahnen
können, dass es ihnen prächtig geht. Sie haben sich sehr gut entwickelt und
sind erstaunlich selten krank. Seit einem Jahr besuchen sie die Kinderkrippe
und haben aufgrund von Krankheiten lediglich fünf bzw. drei Tage gefehlt. Sie
laufen, klettern, schaukeln, fahren Laufrad, spielen Ball, malen, basteln,
spielen in den Tag hinein und führen wunderbare und aberwitzige Gespräche mit mir.
Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass der
Mensch Krisenzeiten sehr gut kompensieren kann. Meine Kinder hatten keine
natürliche Geburt, kein Bonding, kein Stillen. Meine Kinder mussten viele
Untersuchungen über sich ergehen lassen. Sie hatten in ihrem ersten Lebensjahr
einige Hürden zu meistern.
Und trotzdem begleitet es uns jeden Tag: Dieses wunderbare Kinderlachen, voll von
Fröhlichkeit, Zuversicht und Lebensfreude.
Am 17.
November ist der Welttag der frühgeborenen Kinder. An diesem Tag werde ich den
letzten Teil meiner Frühchen Serie veröffentlichen.
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen